Übergangslösung mit Mehrwert: Ein Jahr war die Jugendherberge Hude Zuhause für Flüchtlinge
Mittwochnachmittag. Verlassen hält das Naturbad in Hude seinen Winterschlaf. Die Februarsonne gießt sich golden in die leeren Schwimmbecken und wer ihr entgegenblinzelt, sehnt fröhliche Badeausflüge herbei. Auch der angrenzende Sportplatz: menschenleer. Die Freizeitstätten rund um die Jugendherberge Hude, sie halten friedlich ihren Winterschlaf. Vor dem Eingang der Herberge, in der sich ebenfalls kaum etwas rührt, steht Ali Navkahsi. Security‘ titelt die Rückseite seiner dunklen Jacke. Für ihn sind es die letzten Arbeitstage hier auf dem Gelände, auf dem er in den vergangenen zwölf Monaten nach dem Rechten geschaut, Streitigkeiten geschlichtet und Gespräche übersetzt hat. Nicht auf raufende Teenagern oder aufmüpfige Schulkassen musste er achten, sondern auf Familien, die mit ihren Familien auf der Suche nach einem besseren Leben in Deutschland sind.
2016 wird für das Team der Jugendherberge Hude als ein besonderes Jahr in Erinnerung bleiben. Zahlreiche Fotos in den Aufenthaltsräumen erzählen von den zwölf Monaten, in denen das Backsteinhaus und die sechs bunten Ferienhütten das Zuhause von rund 50 Flüchtlingen waren: Väter halten ihr Neugeborenes im Arm, Erstklässler präsentieren ihre Schultüte und Zirkuspädagoge Karim, der freitags zusammen mit Lena, Anna und Brian für buntes Treiben sorgte, wird von Flüchtlingskindern umrahmt. Einige der abgebildeten Familien sind bereits ausgezogen, die anderen bereiten sich gerade auf den Abschied in der kommenden Woche vor. Es ist in Abschied von der Jugendherberge, aber nicht von Hude. Von hektischer Aufbruchsstimmung noch keine Spur.
Nur Maryam Bagheri hat es eilig und klappt heute früher als sonst ihre Deutschbücher zu. Ihr Zug fährt gleich. Die 35-Jährige will nach Lingen zu ihrer Schwester, die zwei Tage zuvor ein Kind bekommen hat. Diana‘ heißt die neugeborene Nichte. Die Zugreise unternimmt sie an diesem Tag nur mit ihrem jüngsten Sohn Mobin. Mann Mohamad und Tochter Mobina sowie Sohn Matin bleiben in Hude. Für deutsche Familien eine alltägliche Situation, vor zwölf Monaten für Maryam Bagheri noch undenkbar. Sie und ihre Familie kommen – wie viele der Flüchtlinge hier in Hude – aus Afghanistan. Ein Land, das vor allem im Umgang zwischen den Geschlechtern so ganz anders ist als Deutschland.
‚Als ich erfahren habe, dass viele Afghanen bei uns einziehen werden, habe ich erst einmal im Internet recherchiert, was mich erwartet‘, erinnert sich Herbergsleiterin Kirsten Jensen-Gentsch. Das Ergebnis war schon besorgniserregend: Frauen haben sich dort vollständig unterzuordnen. Kein Blickkontakt mit fremden Männern, kein Fahrradfahren, keine eigene Meinung. Eins war mir also klar: Als Frau hier im Haus den Ton anzugeben und Regeln zu definieren, würde erst einmal schwer werden.‘ Sie behielt Recht.
Es gibt zunächst Widerstände gegen die Vorgaben und Regeln im Haus. Sich das Essen gleichberechtigt mit anderen teilen? Den Tisch nach dem Essen abräumen? Müll trennen? Jedes Mal zum Deutschkurs gehen? Muss das alles wirklich sein? Es muss. Kirsten Jensen-Gentsch und ihr Team behalten einen langen Atem, trotz sprachlicher Barrieren. Und Kirsten Jensen-Gentsch behält Blickkontakt, immer. Ich habe mir eine zentrale Aufgabe gestellt: die Menschen, die unser gesellschaftliches Miteinander nicht kennen, mit den Werten und Regeln vertraut zu machen, die für ein eigenständiges Leben in Deutschland nötig sind.‘ Und so begleiteten ihre Assistentin Sandra Fless und sie schwangere Frauen zur Kreißsaalbesichtigung, richten ein Weihnachtsfest aus, halten an deutschen Tischmanieren und Essensgewohnheiten fest und sorgen dafür, dass auch Mädchen und Frauen ein eigenes Fahrrad bekommen.
Es ist 15.30 Uhr. Maryam Bagheri sitzt bereits im Zug, als ihre Tochter Mobina von der Schule kommt. Wie war’s?‘ fragt Kirsten Jensen-Gentsch. Gut‘, antwortet die 13-jährige gutgelaunt, aber knapp. Ich habe Hunger und esse erst einmal was, ja?‘ Eine Szene, wie sie auch Eltern von Zuhause kennen. Was eine Jugendherberge ist, wusste Mobina bei ihrer Ankunft in Hude nicht. Klassenfahrten kannte sie hingegen auch aus Afghanistan. Dort macht man sie aber erst später als in Deutschland‘. Mobina besucht die sechste Klasse der Peter-Ustinov-Schule. Die erste Klassenfahrt gemeinsam mit ihren 26 KlassenkameradInnen hat sie schon hinter sich – es ging nach Hameln. Mobina ist eine ausgezeichnete Schülerin und Anwärterin aufs Gymnasium. Dass sie bereits gut Deutsch spricht, ist dabei ein riesiger Vorteil.
Kirsten Jentsch-Gentsch hat sich von Beginn an für Deutschunterricht eingesetzt. 100 Stunden fanden im Speisesaal der Jugendherbergen dank einer Kooperation mit der VHS statt. Weitere 1.000 Stunden umfasst der derzeit laufende Intensivkurs für herqualifizierte Flüchtlinge, den die Ländliche Erwachsenenbildung anbietet. Mobinas Mutter ist eine derjenigen, die ihn absolviert. Ihr Bildungsziel hat sie dabei fest im Blick: Sie möchte studieren, Medizin. Dass sie den täglichen Nachmittags-Unterricht tatsächlich besucht, benötigte viel Überzeugungsarbeit der Herbergsleiterin. Sich als Mutter von drei Kindern mehrere Stunden täglich nur für sich allein zu reservieren, war für Maryam anfangs undenkbar. Wenn man sieht, welche großartigen Ergebnisse sie bei den bisherigen Sprachprüfungen erreicht hat, kann man nur froh sein, dass sie es am Ende doch gemacht hat.‘
16 Uhr. Mobina sitzt im roten Holzhaus Nr. 6 im Stockbett und macht Hausaufgaben. Es geht um Fabeln. Ihr achtjähriger Bruder Matin, der inzwischen mit seinem Vater vom Kulturhof zurückgekehrt ist, hat gerade ganz andere Probleme: Sein Taekwondo-Anzug hat sich beim Waschen blau verfärbt. Gleich ist Training, die anderen Jungs warten schon vor der Tür, damit sie zusammen losradeln können. Es hilft nichts, der Anzug muss mit. Rein in die Tasche und raus aus dem Haus.
Die Anzüge, sie sind Spenden von Familien, deren Kinder ebenfalls aktiv Kampfsport betreiben. Überhaupt war die Spendenbereitschaft der Bevölkerung unglaublich groß, was unzählige Kuscheltiere auf Matins Bett und diverses Spielzeug darunter beweisen. Im Nachbarhaus bei Familie Alizada ein ganz ähnliches Bild: Auf dem Schrank der Töchter Sumana und Sumaya glitzert es Barbie-Rosa. Glitzern tut es auch auf einigen Kleidern von Mutter Fatima, die sie selbst genäht hat. Sie und ihr Mann sind professionelle Schneider und legen auch in der Jugendherberge Hude Hand an den Stoff. Ob Pullover enger nähen, ein Outfit für den ersten Geburtstag von Mohammed Ehssan anfertigen oder neue Modelle für eine herbergsinterne Party entwerfen – in Haus Nummer 5 sind in den vergangenen Monaten einige neue Kleidungsstücke entstanden.
17:15 Uhr. Matin und seine sportlichen Mitstreiter sind längst beim Taekwondo angekommen. Die Sonne scheint noch immer und lockt nach draußen. Drei Babys sind in den vergangenen zwölf Monaten geboren, auch sie stecken ihre Nasen ins späte Nachmittagslicht.
Im Speisesaal der Jugendherberge sind währenddessen die ersten Vorbereitungen fürs Abendessen zu hören. Gemeinsame Mahlzeiten sind inzwischen reine Routine. Jeder weiß, was er zu tun und zu lassen hat. An manchen Tagen duftet das ganze Haus nach Kreuzkümmel, Koriander, Kardamom, Zimt und Ingwer. Dann wurde mal wieder ein Rezept aus den Flüchtlingsländern gekocht. Auf der Facebook-Seite der Jugendherberge Hude hat Leiterin Jensen-Gentsch Über die gemeinsame Zeit hinweg regelmäßig gezeigt, welche ausländischen Gerichte allen vor Ort das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. „Diese exotischen Speisen, das werde ich wirklich vermissen“, sagt sie.
Heute sind es noch einmal Süßspeisen, die sie kennenlernt. Sicherheitskraft Ali Navkahsi kommt gerade aus einem Urlaub bei seiner Familie im Iran zurück und hat landestypisches Gebäck mitgebracht. 17 Jahre ist er jetzt schon in Deutschland, das Schwierigste sei, deutsche Freunde zu finden, sagt er. Nicht einmal zwei seien es über die Jahre geworden, man käme sehr schwer in Kontakt. „Und genau deshalb glaube ich rückblickend, dass die Flüchtlinge von ihrem Jahr in der Jugendherberge sehr profitiert haben“, bilanziert Jensen-Gentsch. „Auch wenn es für sie anfangs eine unerwünschte Zwischenlösung war, so haben sie doch mehr Einblicke in deutsche Gewohnheiten erlebt als es in einer eigenen Wohnung möglich gewesen wäre. Und das gehört zu Integration zwingend dazu.“
Ali, er nickt.
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Die Beherbergung von und das Zusammenleben mit Flüchtlingen war in den vergangenen Jahren auch an anderen Standorten ein herausforderndes und bereicherndes Thema. Darüber haben wir bereits in anderen Blogbeiträgen berichtet: Manege frei: Flüchtlingskinder werden bei Zirkus-Freizeit in Meppen zu Akrobaten, Steffi Ertel organisiert Benefiz-Tage in Damme sowie Multikulti-Weihnachtsfeier in Sandhatten.
Übermorgen verlassen die letzten Flüchtlingsfamilien aus der Jugendherberge Hude und das Haus schließt endgültig seine Türen. Für Urlaube und Klassenfahrten in der Region stehen aber noch folgende Häuser zur Verfügung: Jugendherberge Oldenburg, Jugendherberge Bremen und Jugendherberge Bad Zwischenahn.
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